Die emotionale Stärke von Nagelsmann in der deutschen Nationalmannschaft

Nadiem Amiri legte den Kopf zur Seite und schaute noch einmal in den blauen Himmel über dem Trainingsplatz. Nein, dass es so schnell gehen würde, damit hätte er nicht gerechnet. Aber diesen Schritt, der erst wie ein Rückschritt aussah, ihn nun aber nach vorne katapultierte, in die Fußball-Nationalmannschaft, den habe er „natürlich bewusst“ gewählt. „Um einfach wieder Freude am Fußball zu bekommen. Einfach wieder das Vertrauen in mich selbst zu bekommen“, wie er am Dienstag sagte, als er in der Montur des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) auf dem Trainingsgelände von Borussia Dortmund sprach.

Jeder weiß: Das kommt nur über das Spielen. Wenn du nicht spielst, kannst du nicht happy sein.
Eine erstaunliche Geschichte

Und es wäre einerseits schon eine ziemlich erstaunliche Geschichte, wenn Amiri, der Mittelfeldspieler von Mainz 05, am Donnerstag (20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Nations League und in der ARD) im San Siro von Mailand oder am Sonntag in Dortmund Fußball spielt, im Trikot der Nationalmannschaft. Andererseits ist es aber eine, wie der Bundestrainer sie gerade besonders gern erzählt. Weil sie sinnbildlich stehen soll für ein Prinzip, das sein Team voranbringt, in der Gegenwart mit den beiden Nations-League-Duellen mit Italien, aber auch darüber hinaus, auf ihrem Weg zur Weltmeisterschaft im übernächsten Sommer.

Julian Nagelsmanns Kader-Idee besteht zum einen darin, einen Stamm von 13, 14 Spielern zu haben, die auch mal über einen (temporären) Zweifel erhaben sind. Daneben aber hebt er noch eine zweite Gruppe hervor: „Wir wollen auch sechs, sieben Spieler dabeihaben, die vielleicht nicht die besten Talente sind oder die besten Einzelspieler, die aber am besten in die Rolle passen und eben auch den nötigen Hunger haben, wenn sie reinkommen“, sagte er der F.A.Z. „Und das sind oft Spieler, die eben nicht diesen klassischen Karriereweg gehen: Akademie, ein Jahr U 23, dann mit 20 zu den Profis, sondern einen Umweg.“

Spieler, die es auf dem zweiten Bildungsweg ins Nationalteam schaffen.

Der Weg zum Nationalteam

Das mag alles zutreffen, allerdings hat auch dieses Prinzip noch eine andere Seite. Nagelsmann selbst hat sinngemäß gesagt, dass es sich um eine eher fluide Gruppe von Spielern handelt, bei der er sehr viel stärker auf den Tageskurs schauen müsse. Was damit auch gemeint gewesen sein dürfte: Dass solche Spieler nicht selten größeren Schwankungen unterliegen, weil sie selbst das Niveau nicht dauerhaft halten, weil es der Verein nicht hält – oder beides. Noch im Oktober hätte man diese Geschichte nicht ohne Deniz Undav erzählen können, den unkonventionellen Stuttgarter Angreifer, aber der ist mit dem VfB im Mittelmaß verschwunden.

Für Nagelsmann resultieren daraus unbequeme, weil nicht immer ganz stringent zu beantwortende Entscheidungsfragen. Während er an Undavs Kurs weiter glaubte, musste dessen Teamkollege Chris Führich zu Hause bleiben. Bei Nick Woltemade wiederum, dem aktuell auffälligsten VfB-Angreifer, hielt Nagelsmann ein kleines Grundsatzreferat, dass es schon mehr als ein paar starke Wochen brauche, um ein Nationalspieler in spe zu sein. Alles in allem hat der Bundestrainer nach den Ausfällen etlicher Stammkräfte mehr Kompromisse eingehen müssen, als ihm lieb sein konnte, erst recht angesichts des Stellenwerts der bevorstehenden Duelle. „In der Breite“, sagte er, „haben wir auf der einen oder anderen Position Nachholbedarf.“

Die Bedeutung von Energiespendern

Dass Nagelsmann jetzt so viel Wert auf die Energiespender legt, die aus der Reserve kommen, auf Leweling, auf Amiri, oder auch auf dessen Klubkollegen Jonathan Burkardt, ist nicht nur ein Ausdruck seiner Überzeugung, sondern im weiteren Sinne auch seiner Entwicklung zum Gefühls- und Stimmungstrainer. Letztere ist rund ums Nationalteam weiter bestens. Wenn man auf die Ausfälle und auf den Gegner blickt, könnte man allerdings auch sagen: Womöglich besser als die Lage.