Treffen mit Verflossenen sind nicht jedermanns Sache. Profifußballspielern geht es da nicht anders – spielen sie gegen einen ihrer früheren Klubs, pfeifen deren Fans oft. Nun ist es nicht eine Person, der die Spieler mit ungewissem Ausgang begegnen. Sondern gleich mehrere Zehntausend Menschen, deren Herz für den ehemaligen Klub schlägt.
Omar Marmoush kennt sich damit aus. Er hat in der Bundesliga schon für drei andere Klubs gespielt, für Stuttgart schoss er in der Saison 2021/2022 drei Tore. Beim 3:2-Sieg der Eintracht am Sonntagabend in Stuttgart zeigte der Stürmer wenig Mitleid mit einem ehemaligen Arbeitgeber.
In der 62. Minute legte der Ägypter sich den Ball halb links zurecht und dürfte weniger an seine Zeit beim VfB gedacht haben. Marmoush hatte vermutlich die zwei Treffer im Sinn, die er in der vergangenen Woche per Freistoß erzielt hatte. Nur sieben Spieler sollen in der Weltgeschichte des Profi-Fußballs vor ihm zwei Freistoßtore in Serie erzielt haben, darunter David Beckham, Ronaldinho, Andrea Pirlo und ein gewisser Lionel Messi.
25 Meter lagen zwischen dem kleinen weißen Halbkreis, den der Schiedsrichter rund um den Ball gesprayt hatte und dem Stuttgarter Tor. Die Zuschauer im Stadion verstummten langsam, einige zückten ihr Handy, ahnend, was nun passieren könnte.
Marmoush traf den Ball genau so, dass er sich hinter der Mauer senkte. Und Nationaltorhüter Alexander Nübel flog vergeblich hinterher. Rekord. Und Sportvorstand Markus Krösche sagte später: „Ich hatte schon ein gutes Gefühl, als er angelaufen ist.“ Ist das noch ein Lauf? Nein, wie Marmoush Spielverläufe auf den Kopf stellt, ist schiere Qualität.
Lange in diesem Spiel hatten die Zuschauer nichts gesehen vom gefürchteten Duo im Eintracht-Sturm, neben Marmoush spielt dort ja noch der schnelle Hugo Ekitiké. Einmal war Marmoush zu Beginn auf Nübel zugelaufen, verzog aber knapp. Dann kombinierte sich der VfB immer häufiger durch das poröse Eintracht-Mittelfeld, über die beiden Spielmacher Angelo Stiller und Enzo Millot.
Das Duell vor dem Spiel hieß schwäbische Kontrolle gegen hessischen Überfall, und die Stuttgarter hatten für die nötige Sicherheit gesorgt. Allen voran der gebürtige Hanauer Jeff Chabot, früher für die Eintracht und Darmstadt 98 am Ball, nahm die beiden Eintracht-Stürmer in Gewahrsam. Hatte er einen der beiden weggecheckt, spielte er den Ball auf Millot oder Stiller. Die beiden schlichen ihren Manndeckern davon und hatten nun die nötige Zeit, nach vorne zu spielen. So köpfte Ermedin Demirovic nach einer Flanke an die Latte.
Kurz später kam Stiller im Frankfurter Strafraum an den Ball, stellte seinen Fuß ein Stück weiter vom Körper weg als nötig. Ein 23-Jähriger stellt die Falle, ein 20-Jähriger läuft hinein. Der Frankfurter Hugo Larsson überrannte Stiller – Elfmeter. Demirovic rieb sich einen Schweißtropfen von der Nase, lief entschlossen an und schoss ins linke Eck.
Da lag Kevin Trapp und nahm entspannt den Ball auf, sein zweiter abgewehrter Elfmeter in Serie. Minutenlang ging das so weiter mit VfB-Chancen, Millot schoss aus zehn Metern frei stehend übers Tor, nicht wenige Stuttgarter dürften an den verletzten Nationalstürmer Deniz Undav gedacht haben.
Und die Frankfurter Angreifer, wo waren die? Schnell verloren sie die Bälle, ließen den Kopf hängen und bestaunten die VfB-Kombinationen. Nur treffen wollten die Stuttgarter nicht. Also erspielte sich die Eintracht einen Eckball, Marmoush flankte scharf herein, Ekitiké rannte einmal seinen Bewachern davon, flog in den Ball, Kopfball, Tor (45.).
Fußball kann ein wunderbar komplexes Spiel sein, wenn der VfB doppelt so viele Pässe wie die Eintracht aneinanderreiht. Fußball kann aber auch einfach sein. Ekitiké dankte dem Stuttgarter Publikum wie ein Stierkämpfer – und wie Mario Gomez, der seine Treffer für den VfB einst so bejubelt hatte.
Als die Spieler die Seiten wechselten, wusste niemand so recht, wieso der Tabellendritte gegen den Champions-League-Teilnehmer führte. Aber die Eintracht wartete auf die nächste Konterchance. Genau für solche Situationen brachte Trainer Dino Toppmöller Ansgar Knauff ins Spiel, der den Ball vor sich hertrieb, zwei hüftsteife Verteidiger umkurvte und in die Mitte spielte. Da stand Nathaniel Brown bereit und schob ein, 0:2 (55.).
Sieben Minuten später schoss Marmoush seinen Freistoß. Lange hatte er sich zurückgehalten, jetzt rannte er in Richtung Eintracht-Kurve und sorgte für eines jener Bilder, an das viele Eintracht-Fans denken werden, wenn der Ägypter in ein paar Jahren in einem anderen Trikot die Bälle über 1,90-Meter-Mauern zirkelt.
In wenigen Bundesligapaarungen fallen statistisch gesehen so viele Tore. Aber das müsste es doch gewesen sein. Toppmöller wechselte durch, der VfB ließ weiter Chance um Chance liegen. Die Eintracht sei nun zu verspielt gewesen, hätte das vierte Tor schießen sollen, sagte Krösche später. Stattdessen traf nach 86 Minuten VfB-Verteidiger Josha Vagnoman, vier Minuten später Angreifer Nick Woltemade.
Und nach 96 Minuten verlängerte ausgerechnet Chabot gegen seinen Jugendklub eine Flanke. Chris Führich traf zum 3:3, auf der Stuttgarter Tribüne fielen Fans übereinander. Nach 98 Minuten stellten die Videoschiedsrichter fest, dass Führich im Abseits gestanden hatte. Und so besiegt Marmoush nach Wolfsburg seinen nächsten ehemaligen Klub.