„Nö!“ Ein Wort, zwei Buchstaben, eine klare Botschaft: So lautete die Antwort von Angelo Stiller auf die Frage, ob er sich derzeit einen Wechsel zum FC Bayern München vorstellen könne. Ein junger deutscher Fußballprofi mit großem Talent, der nicht zum FC Bayern will? Vor einigen Jahren hätte man darüber wohl noch die Stirn gerunzelt, zumal Angelo Stiller nicht einfach nur ein junger deutscher Fußballprofi ist, sondern einer, der in München geboren wurde, der beim FC Bayern die Jugendmannschaften durchlief, immer aufgeblickt haben dürfte zu den Profis, die das Wappen des Vereins auf ihrer Brust trugen bei Spielen in der Bundesliga und Champions League.
Heute aber ist das anders. Da klingt das, was Stiller nach seinem Startelf-Debüt in der Nationalmannschaft Anfang dieser Woche bei Sky gesagt hat, nachvollziehbarer. Der VfB Stuttgart hat eine beeindruckende Transformation hinter sich. Nach Jahren der Erfolglosigkeit mit zwei Spielzeiten in der zweiten Liga spielt der Traditionsverein nun wieder oben mit und tritt in dieser Saison nach Platz zwei hinter Bayer Leverkusen in der vergangenen Spielzeit sogar erstmals seit 14 Jahren in der Champions League an.
Unter Trainer Sebastian Hoeneß, mit dem die derzeitige Stuttgarter Erfolgsgeschichte eng verknüpft ist, reiften etliche Nationalspieler heran. Maximilian Mittelstädt, Chris Führich, Deniz Undav, Jamie Leweling, Alexander Nübel und Stiller: Sechs VfB-Profis standen bei den beiden zurückliegenden Nations-League-Spielen im DFB-Aufgebot, mehr als von jedem anderen Verein, und damit auch mehr als vom FC Bayern, auf den Stuttgart an diesem Samstag (18.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Bundesliga und bei Sky) im Bundesliga-Spitzenspiel in München trifft.
Undav traf doppelt gegen Bosnien-Hercegovina, Mittelstädt legte einmal auf. Leweling schoss Deutschland zum Sieg über die Niederlande, Stiller zeigte, warum ihm neben Münchens Aleksandar Pavlović die Zukunft in der Mittelfeldzentrale gehören könnte. Auch Nübel machte seine Sache gut, Führich bekam immerhin einen Kurzeinsatz.
Schaut man sich an, wo diese Spieler herkommen, wird es erst richtig spannend: Führich kam einst vom SC Paderborn, Mittelstädt war Ersatzspieler bei Hertha BSC, Leweling wurde bei Union Berlin nicht mehr gebraucht (vielleicht hat man dort auch nicht mehr an ihn geglaubt). Nübel wurde vom FC Bayern per Leihe zur AS Monaco abgeschoben und nun, weil im Münchner Kader weiter kein Weg an Manuel Neuer vorbeiführte, zum zweiten Mal an den VfB verliehen. Stiller, der erst ablösefrei aus München nach Hoffenheim kam, folgte seinem einstigen Trainer Hoeneß, der den heute Dreiundzwanzigjährigen schon bei den Bayern und der TSG trainiert hatte, zum VfB. Und Undav war im englischen Brighton zweite Wahl, ehe er nach seiner Ausnahmesaison als Leihspieler beim VfB mit millionenschwerem Aufschlag verkauft wurde.
In Stuttgart haben sie Weitsicht bewiesen mit diesen Spielern, sie haben ihr Potential erkannt und in Hoeneß den richtigen Mann gefunden, der dieses Potential zur Entfaltung bringen kann. Stiller habe „sehr, sehr gut“ gespielt, sagte der VfB-Coach in dieser Woche, er könne nun „mit Fug und Recht davon ausgehen“, wieder eine Chance in der Nationalmannschaft zu bekommen. Auch Leweling, der schon beim mutigen Stuttgarter Auftritt gegen Real Madrid in der Champions League beeindruckt hatte, beglückwünschte der VfB-Trainer zu einem „fast perfekten Spiel“ gegen die Niederlande, überhaupt sei dessen Entwicklung, die nun zum DFB-Debüt (begünstigt durch den Ausfall von Münchens Jamal Musiala) führte, „großartig“, es gebe „kaum eine schönere Geschichte“.
Über Waldemar Anton redet in Stuttgart kaum einer mehr, dessen Wechsel zu Borussia Dortmund für wohl mehr als 20 Millionen Euro vor allem von den Fans als unrühmlich empfunden wird. Doch auch Anton, der vor viereinhalb Jahren noch bei Hannover 96 kickte, zählt zur Reihe deutscher Profis, die beim VfB zum Nationalspieler wurden.
Hoeneß gibt jungen Spielern Einsatzzeiten und VerantwortungIn Stuttgart können sich insbesondere junge Spieler entwickeln, weil sie unter Hoeneß Einsatzzeiten und Verantwortung bekommen, aber auch in die Pflicht genommen werden. Der Zweiundvierzigjährige, das erzählen die VfB-Profis immer wieder in Interviews, macht seine Spieler besser.
Das bleibt andernorts nicht verborgen, auch in München nicht. „Die sind mittlerweile eine große Nummer in der Bundesliga“, sagte etwa Thomas Müller dieser Tage, und Bayern-Torhüter Neuer erwartet ein „schweres“ Heimspiel, „da wir wissen, was für eine Stärke sie haben“. Hoeneß selbst, das gehört ebenfalls zu seinem Persönlichkeitsprofil, bleibt zurückhaltender. „Natürlich werden wir anders wahrgenommen, aber meine Aufgabe ist es, das realitätsnah darzustellen. Und das heißt, dass die Bayern Favorit sind.“
Überhaupt ist Hoeneß keiner, der sich lange mit der Vergangenheit aufhalten möchte. Nicht was seinen eigenen Werdegang angeht und auch nicht, was die Erfolge seiner Spieler und seines Vereins betrifft. „Wir haben zu wenig Punkte, um glücklich zu sein, und es wäre möglich gewesen, diese Punkte zu holen“, sagte er. Aktuell steht der VfB auf Tabellenplatz acht, die Münchner grüßen von der Spitze. Die guten Leistungen der Stuttgarter in der Nationalmannschaft sind für ihn deshalb „Schnee von gestern. Wir müssen schauen, dass wir schnell den Fokus wieder setzen.“
Insgesamt zeigt sich, dass der VfB Stuttgart unter Trainer Sebastian Hoeneß eine beeindruckende Entwicklung durchgemacht hat und nun in der Bundesliga und international eine große Herausforderung für Top-Teams wie den FC Bayern München darstellt. Die Förderung junger Talente und die erfolgreiche Integration von Spielern aus verschiedenen Hintergründen haben dazu beigetragen, dass der VfB heute als ernstzunehmender Gegner angesehen wird. Es bleibt spannend zu beobachten, wie sich die Erfolgsgeschichte des VfB unter der Leitung von Hoeneß weiterentwickeln wird.