Ein erzwungener Kuss auf den Mund in der Öffentlichkeit. Ein unerwünschter, aufdringlicher Griff beim Kunstturnen. Die Beleidigung einer zierlichen Gymnastin als „fette Kuh“. Ein Kugelschreiber oder ein Aktenordner, die als Wurfobjekt aus der Hand eines Sportfunktionärs fliegen und zwar die Mitarbeiterin verfehlen, aber verletzen: Das sind keine fiktiven Szenarien, sondern reale Beispiele aus dem Sportleben, die nicht allzu lange zurückliegen.
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) plant, nicht nur diese Formen von Gewalt in Zukunft zu bestrafen. Am Mittwoch wurde sein Programm zur Bekämpfung von „interpersonaler Gewalt“ im Sport vorgestellt. Im Mittelpunkt steht ein Regelwerk, das die rechtliche Grundlage für die Erfassung, Bewertung und Bestrafung von Gewalt jeglicher Art gegen Menschen in allen Verbänden und Vereinen des organisierten Sports bilden soll.
Der DOSB wäre die erste zivilgesellschaftliche Organisation in Deutschland, die ein so umfassendes Regelwerk innerhalb ihrer Zuständigkeit einführt. Athleten Deutschland e.V., die kritische Vertretung der Sportler und Sportlerinnen, bezeichnet diesen Schritt als „Neuland“ im Vergleich zu anderen Institutionen in Deutschland.
Der sogenannte „Safe Sport Code“ (SSC) soll im Dezember auf der Mitgliederversammlung des DOSB in Saarbrücken zur Abstimmung vorgeschlagen und nach dem Willen der DOSB-Führung beschlossen werden. Es wird erwartet, dass er angenommen wird, da alle 16 Landessportbünde Mitte Oktober ihre Unterstützung zugesagt haben.
Bis Ende 2028 haben alle Mitgliedsorganisationen des Dachverbandes Zeit, das Musterregelwerk anzunehmen, sportartspezifische Details hinzuzufügen und den Kodex in ihren Satzungen zu verankern. Dies würde voraussichtlich mehr als ein Viertel der Bevölkerung an den Kodex binden. In Deutschland gibt es etwa 90.000 Sportvereine und rund 28 Millionen Mitgliedschaften.
Der DOSB plant die Einführung des Safe Sport Code, um gegen Gewalt im Sport vorzugehen.
Hintergrund für diesen Kraftakt des DOSB ist unter anderem die Befürchtung, dass das Ausmaß von Gewalt im Sport vergleichbar sein könnte mit der sexualisierten, oft vertuschten und selten geahndeten Gewalt in der katholischen Kirche. DOSB-Präsident Thomas Weikert erklärte in einer Mitteilung des Verbandes: „Gewalt ist nicht mit unseren Werten vereinbar. Wer dagegen verstößt, ist im Sport nicht willkommen und muss mit Sanktionen rechnen.“
Laut Artikel 1 des 54-seitigen Kodex umfasst dieser alle Formen von „interpersonaler Gewalt“ von Personen jeglichen Geschlechts, die in oder für Organisationen des Sports tätig sind, einschließlich Sportlern, Trainern, Betreuern, Schiedsrichtern, Ärzten und Funktionären. Auch Minderjährige sind an die Regeln gebunden. Jede Form von Gewalt, sei es körperlich oder seelisch, sexualisiert oder durch Vernachlässigung, ist verboten.
Das Ziel der Regelung ist es vor allem, den häufig vorkommenden, aber nicht strafbaren Verstößen im Sport gerecht zu werden. Dies könnte Schikane im Training, unangemessene Wortwahl oder sexistische Äußerungen umfassen. Der Kodex erlaubt Sanktionen unabhängig von einer strafrechtlichen Verfolgung, die von einem Lizenzentzug bis zum Ausschluss reichen können.
Auch juristische Personen wie Verbände oder Vereine können bei wiederholtem Fehlverhalten ihres Personals belangt werden. Es ist vorgesehen, dass alle Verstöße unterhalb der Strafrechtsschwelle nach fünf Jahren verjähren. Alle Verstöße müssen zügig gemeldet werden, um untersucht und gegebenenfalls sanktioniert zu werden.
Die meisten Fachverbände in Deutschland haben das Management von Dopingfällen an die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA) abgegeben. Im Kodex wird erwähnt, dass eine Abtretung an das Zentrum für Safe Sport möglich ist, das vom Bundesinnenministerium konzipiert wurde.
Athleten Deutschland kritisiert einige Lücken im Regelwerk und fordert eine unabhängige Überwachung der Einhaltung der Regeln durch das Zentrum für Safe Sport. Sie betonen die Notwendigkeit von Schutzmechanismen außerhalb des Sports, um Interessenkonflikte zu vermeiden und den Betroffenen eine Wahl zu geben, wo ihre Meldung bearbeitet wird.
Der Prozess zur Umsetzung des Safe Sport Code wird voraussichtlich Jahre dauern, aber es ist wichtig, bereits jetzt den Geist des Kodex zu verinnerlichen und sich gegen Gewalt im Sport zu engagieren.