Am Ende wird Olaf Scholz nicht 30 Minuten, sondern die volle Spielzeit verbracht haben beim Sportempfang der SPD-Fraktion im Bundestag, 90 Minuten plus Halbzeit und Nachspielzeit – und dabei das eine oder andere nicht nur sportpolitische Signal gesendet haben.
Ein starkes Zeichen für den Sport
Dass er überhaupt erschienen ist im Herbststurm des politischen Berlins, der Koalitionskrise, die über das Wochenende zur Existenzfrage geworden ist, sieht die SPD, klar, als starkes Zeichen für den Sport. Andere sehen darin ein Zeichen der Selbstbehauptung, „so ist er eben“, sagt einer, der Scholz und den Betrieb schon lange kennt. Wahrscheinlich ist es von beidem etwas.
Jedenfalls haben am Ende nicht wenige Besucher das Gefühl, dass Scholz, der von sich sagt, dass er den Sport erst spät, im Alter von 40, für sich entdeckt hat, womöglich auch so etwas wie den Sportkanzler in sich spät noch gefunden hat, zumindest für seine bis zum vergangenen Sommer ziemlich reserviert wirkenden Verhältnisse. Und, dass er das auch noch über den Tag, über diese Woche, über diese Krise hinaus bleiben wolle.
„Ganz besonderes Jahr für den Sport“
Die Frage, die über diesem Abend aber auch schwebt, ist: Was wäre, wenn es anders kommt? Wenn etwa an diesem Mittwoch im Koalitionsausschuss keine gemeinsame Basis unter den Prota- und Antagonisten der Ampel gefunden werden sollte? Für den Sport, das ist allen klar, steht mit der Regierung einiges auf dem Spiel. Was sich konkret auch in jener speziellen Fügung spiegelt, dass das Sportfördergesetz, zentrales sportpolitisches Projekt der Ampel, just an diesem Mittwoch auf der Kabinettsagenda steht.
Als Scholz am Montagabend die Stufe zur Bühne erklimmt, scherzt er: „Die erste Sportübung.“ Dann beginnt er, über „ein ganz besonderes Jahr für den Sport in Deutschland“ zu sprechen. Er erzählt von den olympischen und paralympischen Spielen in Paris, von der Fußball-EM, über das Vergnügen, „unsere Jungs im Stadion anfeuern zu können“.
„Das brauchen wir über den Sport hinaus“
Er sagt, dass er sich neben den Leistungen auch über anderes gefreut habe, über Teamgeist, Fankultur, Enthusiasmus im Land, und kommt über diesen Weg zu Julian Nagelsmann – und mit ihm zu seiner ersten Pointe. Die Botschaft des Bundestrainers nach dem EM-Aus, sagt der Bundeskanzler, habe er „toll“ gefunden: Sich „bewusst zu machen, in was für einem schönen Land wir leben, welche Möglichkeiten wir haben, wenn wir zusammenhalten und nicht alles schwarzmalen“ – und, kurze Pause: „wenn wir uns gegenseitig den Erfolg gönnen“. Er frage sich, woran ihn das gerade erinnere. Schmunzeln und Applaus im Publikum. „Dieses Gefühl des gemeinsamen Anpackens, des Stolzes und der Freude über das gemeinsam Erreichte, brauchen wir über den Sport hinaus.“
Nach dieser politischen Spitze, die ihn selbst vergnügt, dringt der Kanzler zum Ernst der Lage vor, nicht dem in der Koalition, aber der Sportnation. „Spitzensport braucht Spitzenbedingungen“, sagt er und lobt sich und seine Regierung dafür, „immerhin 50 Millionen Euro“ Aufwuchs in den Haushaltsentwurf für 2025 gestellt zu haben, 350 Millionen also insgesamt, „ein starkes Bekenntnis zum Spitzensport in Deutschland“.
„Brauchen eine unabhängige Einrichtung“
Dann spricht er über das, was andere „besser hinkriegen“, Franzosen, Briten, Niederländer, die bei Olympia weit mehr aus ihren Möglichkeiten – konkret: Medaillen aus ihrer Population – gemacht haben. „Wir wollen und können da aufschließen“, sagt Scholz so deutlich, wie mancher sich das früher schon einmal gewünscht hätte, und verbindet diese Hoffnung auf deutsche Fest-Spiele in kommenden Jahren auch mit diesem Mittwoch: mit dem Weg des Sportfördergesetzes ins Kabinett, und explizit auch mit der im Zuge des Gesetzes neu zu gründenden Sportagentur, bei der künftig die Steuerung des Spitzensports zusammenlaufen soll, , dann nicht mehr beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). „Wir brauchen eine unabhängige Einrichtung“, sagt Scholz.
Darum ist hart gerungen worden in den vergangenen Monaten und Jahren, und ganz ohne weiteres würden das wohl auch heute nicht alle in der Politik und im Sport so unterschreiben. Im organisierten Sport nicht, weil man dort fürchtet, dass die propagierte Unabhängigkeit in Wahrheit zu eigenen Ungunsten ausfällt, schließlich möchte die Politik als Hüter der Steuergelder nicht nur ein Wort mitreden, sondern im Zweifel das letzte haben. In der Opposition wiederum gibt es grundsätzliche Zweifel einer zentralen Steuerungsinstanz. Nicht zuletzt deshalb ist die Frage, was vom Sportfördergesetz bliebe, wenn die bisherige Koalition verschwände.
Ein Gesetz ist besser als kein Gesetz
Keine Regierung, kein Gesetz, keine Agentur? Dann wäre „alles für die Katz“ gewesen, sagt ein Athletenvertreter. Ein Gesetz ist besser als kein Gesetz, findet man auch bei den kritischen Denkern von „Athleten Deutschland“, bei allen Nachbesserungsforderungen im Detail: bessere individuelle Absicherung, eigenständige Vertreterrolle, mehr Schutz. Ob es dazu in dieser Legislaturperiode noch kommt, kann ohne das Wissen um die Zukunft der Koalition niemand sagen.
Von einem bevorstehenden „heißen Herbst“ in der Sportpolitik ist schon vor ein paar Wochen die Rede gewesen. Nun ist er noch ein bisschen heißer geworden. Der Sport ist gewiss nicht das wichtigste Thema, wenn es um die Zukunft der Regierung und des Landes geht. Aber der Sport hat, auch im Vergleich zu anderen Ressorts, das Problem, dass seine wichtigsten Themen sich am Ende der Legislaturperiode drängen. Und zugleich das Gefühl, gerade ein bisschen was in der Hand zu haben. Ein Verbandsvertreter spricht mit Blick auf die 50 zusätzlichen Millionen die Hoffnung aus, dass die Puste noch für den Haushalt hält. Zwar gibt es keine Zeichen, dass die Opposition den Sport niedriger gewichten würde. Aber: Was man hat, das hat man.
Olaf Scholz: „Ja, es wird Zeit“
Was man – und auch Scholz – in Zukunft gerne hätte, ist noch etwas anderes: Olympische und paralympische Spiele. Im Sommer hat sich das Kabinett zu einem neuen Bewerbungsanlauf bekannt. „München 1972, das liegt lange zurück – zu lange“, sinniert Scholz am Montag und formuliert auffallend entschlossen den Wunsch, dass sich das ändern möge. „Ja, es wird Zeit“, sagt er, und zwar konkret in 16 Jahren, 2040, zum 50. Jubiläum der Einheit, einen „viel schöneren Anlass für Spiele in Deutschland kann es doch eigentlich gar nicht geben“. Die Politik habe ihre Unterstützung in Form des Kabinettsbeschlusses und einer Finanzierungszusage für die Bewerbung gegeben. Nun sei der DOSB am Zug.
Auch der allerdings muss beim größten und wichtigsten aller Zukunftspläne nun auch ein bisschen bang auf die Gegenwart schauen. Auf die beim Internationalen Komitee (IOC), das im kommenden Jahr einen neuen Präsidenten wählt, ohnehin. Aber auch auf die Berliner: Eine unklare politische Situation würde das ohnehin diffizile Timing, das Thomas Weikert, der DOSB-Präsident, an diesem Abend in einer Diskussionsrunde beschreibt, noch ein bisschen komplizierter machen.
Der Sport, so wirkt es an diesem Abend, würde Scholz und seine Regierung lieber noch nicht gehen lassen. Er selbst, es geht auf halb neun zu, lässt sich mit seinem Abgang Zeit, bleibt stehen, wenn jemand ihm noch etwas mit auf den Weg geben möchte oder nur ein Selfie will. Das wollen ziemlich viele. Eine Schlussszene fast wie aus dem Sport selbst: Das Bad in der Menge – und die Frage, ob einer nochmal wiederkommt.