Die Atmosphäre im Raum ist geprägt von Resignation. Einige der Menschen hier haben seit zweieinhalb Jahrzehnten gehofft und gekämpft. Für eine Rente, die etwas von dem kompensieren soll, was sie vor noch viel längerer Zeit erlitten haben. Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein (DOH) hat eingeladen, eines traurigen Jubiläums zu gedenken an diesem Freitagabend: 50 Jahre Staatsplan 14.25, das staatliche, geheime, flächendeckende Dopingsystem in der DDR. In der Gegenwart bedeutet das bei vielen schwere körperliche Schäden und Traumata. Dazu das Gefühl, dass die Hoffnung schwindet, noch etwas zu erhalten, was hilft, die Folgen zu mildern, materiell, aber auch psychologisch.
Ute Krieger-Krause, die frühere Weltklasseschwimmerin, sagt: „Ich persönlich lasse solche Hoffnungen gar nicht mehr in mir aufkommen“. Vor 15 Jahren hatte sie noch dem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Thomas Bach, damals Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die Stirn geboten. Heute sagt sie: „Meine Kräfte sind verpufft.“ Ähnliches berichtet Gesine Tettenborn, die ehemalige Sprinterin, die sich 2010 aus der Rekordliste des Deutschen Leichtathletik-Verbandes streichen ließ. „Nach dem letzten Urteil haben viele die Hoffnung verloren“, sagt sie. Die Stimme ist leise, der Ton hart: „Manche sagen, die spielen auf Zeit, die warten, bis wir alle verreckt sind.“
Nicht nur die Hoffnung und die Kräfte werden weniger, viele im Publikum hier im ehemaligen Offizierscasino der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, die jetzt der „Campus für Demokratie“ ist, sind im gehobenen Alter. Viele andere schon tot.
Es geht um die, denen es am schlechtesten gehtIm März hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig in einem Grundsatzurteil eine Klage einer früheren Kanutin abgewiesen; Opfer des Staatsdopings hätten nach dem betreffenden Gesetz, der sogenannten verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung, keinen Anspruch auf Entschädigung. Es handele sich weder um politische Verfolgung noch um „Willkürakte im Einzelfall“. Zuletzt war für die Gruppe der Doping-Opfer kein Platz im Entwurf für die Novellierung des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, die in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden sollte. Bei diesem Vorhaben geht es allgemein darum, die Beweisführung durch Festlegung von Kriterien zu vereinfachen, für alle Opfer des DDR-Unrechts.
Michael Lehner, der DOH-Vorsitzende, erkennt darin, dass das aller Voraussicht nach nicht mehr passiert, nun sogar eine „Chance“. „Wahrscheinlich ist es besser, wenn das Gesetz nochmal aufgemacht wird“, sagt der Rechtsanwalt mit Blick auf einen neuen Bundestag. Obwohl die Rente für Doping-Opfer auch bei anderen Opfergruppen auf Widerstand stößt, war die politische Unterstützung im Grundsatz groß – ebenso das Unverständnis, dass offenbar das FDP-geführte Justizministerium sich querstellte.
Es geht um eine Gruppe von 1600 Menschen, die als Doping-Opfer staatlich anerkannt sind und im Zuge der Dopingopferhilfegesetze schon Anspruch auf eine einmalige Entschädigung hatten. Für eine zusätzliche Rente – vielleicht 200, 300 Euro – wären es eher weniger, nicht alle hätten wohl einen Anspruch. Das heißt aber auch: Es geht hier um die, denen es am schlechtesten geht.
„Der Gesetzgeber muss ran“Für den Mediziner Jörg Frommer von der Universität Magdeburg, der wie Lehner am 6. November bei der Beratung im Bundestags-Rechtsausschusses als Sachverständiger geladen war, ist klar: „Der Gesetzgeber muss ran.“ Auch, weil Verwaltung und Gerichte „völlig überfordert“ seien, wenn sie Einzelfälle zu behandeln hätten, wie seine Erfahrung als Gutachter zeige. Der Dreiklang aus der Benennung eines schädigenden Ereignisses, der Feststellung eines konkreten Krankheitsbildes, vor allem aber die zu belegende Kausalkette – das sei nicht geeignet und letztlich auch unzumutbar.
Beim Thema Willkür bekommen die Doping-Opfer Unterstützung aus der Wissenschaft. Die Historikerin Jutta Braun (Potsdam) kommt in ihrer Studie, in der sie die Akten der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) auswertet, zu dem Schluss, dass das DDR-Doping „trotz aller staatlichen Lenkung von einem hohen Maß an Willkür gekennzeichnet war“. Es habe „kein regulatorisches Geländer und keine schützende Altersuntergrenze“ gegeben. Eine interne Richtlinie, wonach Dopingmittel erst ab 16 Jahren verwendet werden sollten, sei durch die Einführung der „biologischen Reife“ unterlaufen worden.
Was das bedeutete, schildert die Rostocker Psychologin Diana Krogmann, die zu gesundheitlichen Langzeitfolgen des DDR-Dopings forscht. Laut ihrer Untersuchung, an der sich 101 Doping-Opfer beteiligten, lag das Durchschnittsalter der ersten Mittelvergabe bei 12,92 Jahren, die Spanne reichte von fünf bis 17 Jahren – „fünf!“, wie sie betont, und das sei kein Einzelfall. Mit drastischen Folgen für die Psyche: einer deutlich erhöhten Depressivität etwa, oder dem Wert von 98 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, bei denen irgendwann im Leben mindestens eine psychologische Störung diagnostiziert wurde (gegenüber 42 Prozent in der Allgemeinbevölkerung). „Minderjährig zwangsgedopte DDR-Athleten sind psychisch schwer, chronisch und bis heute belastet“, sagt sie.
Überhaupt ist die psychische Komponente des Zwangsdopings, die Einbindung in ein größeres Verständnis des Gewaltzusammenhangs, ein drängendes Thema. „Das ist bisher überhaupt nicht genügend berücksichtigt und bewertet worden“, sagt der Mediziner Frommer. Von „Staatsmobbing“ spricht Gesine Tettenborn. Allerdings, so ist mehrfach zu hören, haben die Doping-Opfer an anderer Stelle gerade eher einen Abwehrkampf zu führen: gegen einen Rückfall des öffentlichen Diskurses hinter einen längst etablierten und belegten Erkenntnisstand – bis hin zu einer Täter-Opfer-Umkehr.
Am Ende der Diskussionsrunde, als Menschen aus dem Publikum von ihren Fällen erzählen, wird es emotional, Tränen fließen, und je persönlicher und damit plastischer es wird, desto mehr tritt das Gefühl der Resignation gegenüber etwas anderem in den Hintergrund: Selbstvergewisserung. Der Zugriff auf den Sinn des Kampfes, so wirkt es, kehrt zurück. Auch deshalb, weil es ja gar nicht stimmt, dass mit ihnen die Geschichte zu Ende geht. Über die Doping-Opfer der zweiten Generation, geschädigt aufgrund des Mittelkonsums ihrer Mütter, ist überhaupt noch nicht geredet worden.