Steffen Baumgart: Wie er Union Berlin vor dem Abstieg gerettet hat
Vor vielen Jahren, als Steffen Baumgart noch Trainer des Berliner AK in der vierten Liga war, vermittelte er seiner Mannschaft einen riskanten Spielstil. Dazu gehörte, dass er die ballferne Seite gerne gänzlich unbewacht ließ. Das klappte hervorragend; trotzdem sah sich Baumgart immer wieder mit pessimistischen Zukunftsvisionen konfrontiert: Vierte Liga, gut und schön, da tummeln sich halt noch viele Amateure. Spätestens in Liga drei werde diese Strategie aber an ihre Grenzen stoßen. Einen Aufstieg später, als Trainer des SC Paderborn, hörte Baumgart die gleichen Warnungen. In der zweiten Liga sei nun wirklich Schluss mit diesem Harakiri, was ihn nicht davon abhielt, an seiner Vorgehensweise festzuhalten und sie mit in die Bundesliga zu nehmen.
Inzwischen ist der 53 Jahre alte Trainer etabliert in der deutschen Eliteliga, wo er immer noch gern jene Seite unbewacht lässt, auf der sich der Ball gerade nicht befindet. Mit seiner Strategie verhält es sich in gewisser Weise wie mit seinem Engagement beim 1. FC Union Berlin. Auch dort schlug ihm Skepsis entgegen, als er während der Winterpause Bo Svensson ablöste. Baumgart und Union, das mag menschlich passen, lauteten die Kommentare.
Wende nach Fehlstart
Schließlich verbindet Trainer und Verein eine gemeinsame Vergangenheit. Anfang des Jahrtausends rannte sich Baumgart in die Herzen der Berliner Fans, seine Frau arbeitete auf der Geschäftsstelle. Passende Folklore für einen an Folklore reichen Verein wie Union, aber inhaltlich, na ja. Sportlich wird das nichts, hieß es. Kaum jemand sei ungeeigneter als Baumgart, dessen mutiges, aggressives und kräftezehrendes Spiel nicht zu einem in die Jahre gekommenen Kader wie dem des 1. FC Union passe.
Nach dem geschafften Klassenverbleib am Osterwochenende war davon wenig zu hören. „Wir freuen uns, dass wir auch in der kommenden Saison in der Bundesliga spielen dürfen“, sagte Baumgart im Anschluss an das aufsehenerregende 4:4 gegen den VfB Stuttgart. Ein denkwürdiges Spiel.
Alle acht Tore fielen in der ersten Halbzeit, das hatte es seit Einführung der Bundesliga 1963 noch nie gegeben. Für den Fußballliebhaber Steffen Baumgart war das Spektakel wie für alle Besucher ein Genuss, für den Trainer in ihm weniger. „In der ersten Halbzeit war es schon ein geiles Spiel, aber in der Pause habe ich ehrlicherweise gehofft, dass es nicht mehr ganz so geil wird“, sagte Baumgart.
Der Punkt reichte, um Union den vorzeitigen Klassenverbleib zu sichern, vier Spiele vor Schluss. In der DDR, Baumgart wurde in Rostock geboren, wäre von Planübererfüllung die Rede gewesen. Insgeheim hatten sie sich beim 1. FC Union auf ein schwieriges Frühjahr eingestellt, nachdem der Start unter Baumgart alles andere als optimal verlaufen war. Drei der ersten vier Spiele gingen verloren, unter anderem gegen die direkten Konkurrenten Heidenheim und St. Pauli. War doch klar, sagten jene, die der Konstellation mit weniger Wohlwollen gegenüberstanden.
Baumgarts Mut zum Risiko wird belohnt
Es dauerte, bis Mannschaft und Trainer zueinanderfanden. Was bei genauerer Betrachtung wenig überrascht. Baumgart verlangt in vielen relevanten Handlungsbereichen von seinen Spielern eine andere Vorgehensweise, als diese es von ihrem langjährigen Trainer Urs Fischer und später auch teilweise von Bo Svensson kannten. Die mehr als ein halbes Jahrzehnt erfolgreich praktizierte Dreierkette schaffte Baumgart zugunsten einer Verteidigungslinie mit vier Abwehrspielern ab.
Vorne lässt er die Gegner nun früher und aggressiver attackieren als der abwartende Fischer. Das kostet neben Mut auch Kraft, die der nicht mehr ganz jungen Berliner Mannschaft von einigen Beobachtern abgesprochen wurde. Baumgart brach nicht nur mit lieb gewonnenen Gewohnheiten, er ging auch ein erhöhtes Risiko ein. So wie zu seinen Anfängen in der vierten Liga. Und wurde belohnt.
Union ist seit sechs Spielen ungeschlagen, trotz Gegnern wie dem FC Bayern oder Bayer Leverkusen. Die zwölf zuletzt gewonnen Punkte geben den Verantwortlichen Planungssicherheit. Anders als in der vergangenen Saison, als Union erst am letzten Spieltag in letzter Minute den Klassenverbleib schaffte.
„Schon viel Abgesang gehört“
Als Mann der Stunde sprach Baumgart mit dem Gefühl der Bestätigung über die vergangenen Wochen. „Wir haben immer die Ruhe bewahrt, auch nach schwierigen Situationen, mit dem Kiel-Spiel als negativem Höhepunkt. Da habe ich schon viel Abgesang gehört. Trotzdem ist der Verein in sich ruhig geblieben“, sagte er. Die positiven Ergebnisse bestärkten alle Beteiligten. „Natürlich haben die Jungs dadurch angefangen zu glauben, vielleicht mehr als vorher. Und dann kommst du in einen Lauf, den man vielleicht auch nicht immer erklären kann“, sagte Baumgart.
In den ausstehenden vier Spielen bis zum Saisonende wird es nun darum gehen, „nicht zu übertreiben“, wie Baumgart erläuterte. Was immer das heißen mag. Die Gefahr einer überbordenden Erwartungshaltung ist aber gering. Für einen internationalen Wettbewerb kann sich der Verein nicht mehr qualifizieren. Der Trainer und der 1. FC Union können mit aller Gelassenheit in die Sommerpause gehen. Das ist mehr wert, als es sich im ersten Moment anhört.